Mittwoch, April 18, 2012

Der Ernst des Lebens

Die Sache ist ernst. Ernster als ich anfangs gedacht habe. Ein Stammkunde, in der Zwischenzeit Mitte 80 ist an Alzheimer erkrankt.
Anfangs dachte ich noch, dass er kleine Scherze in unsere Gespräche einfließen will, oder einfach nur ein wenig vergesslich wird. Aber nein, er selbst merkte nach und nach dass da einiges nicht stimmt.
Seit 10 Jahren ruft er mal mehr oder weniger regelmässig an. Und jetzt öfters.
Kleine Anzeichen, dass er sich nicht mehr erinnern konnte vor 3 Stunden mit mir telefoniert zu haben, häuften sich. Jetzt bin ich für ihn wieder 10 Jahre jünger und er gibt mir zu verstehen wie glücklich er ist, meine Telefonnummer in der Zeitung entdeckt zu haben.

Dabei hat er sie gespeichert. Seit Ewigkeiten.

Die letzten 2-3 Jahre führen wir keine Gespräche mehr mit sexuellem Inhalt. Alltägliches ist ihm wichtiger geworden.
Gestern habe ich meinen ganzen Mut zusammen genommen und seine Nummer gewählt. Ich weiss dass er über die Mittagsstunde ein Schläfchen hält und hatte zum Glück eine Pflegerin, die mehrmals am Tag nach ihm und seiner Frau schaut, am Apparat. Ich gab mich als Bekannte aus und ich erhielt die Telefonnummer seines Sohnes.

Dann der große Schritt. Sein Sohn hob ab und war begeistert mich zu sprechen.

Sohn : „Wenn sie wüssten wie er von Ihnen schwärmt! Im Grunde sind sie wie eine Tochter für ihn. Ich fand es immer lustig wenn er von Ihnen als seine ganz spezielle Freundin geredet hat.“

Er erzählte mir dass seine Eltern nie die ärmsten waren und es ihm eigentlich auch nichts ausmacht, dass sein Vater einiges an Geld mit mir vertelefonierte. Und dann sprachen wir darüber wie ich von jetzt an verfahren sollte. Natürlich macht es mir etwas aus wenn er mich 20-30 Mal am Tag anruft und fast immer der Meinung ist dass es das erste Mal am Tag sei.

Der Sohn meinte dass er seinem Vater auf keinen Fall das telefonieren verbieten wolle und ging auf meinen Vorschlag ein, dass ich nicht immer, falls seine Nummer auf dem Display aufleuchtet, abhebe. Und er wird meine gespeicherte Servicenummer mit meiner Privatnummer ersetzen.
Dann tat ich etwas Unerwartetes, was auch seinem Sohn die Sprache verschlug. Ich rufe IHN an.
2-3 Mal am Tag werde ich ihn anrufen und mit ihm quatschen. Das bin ich ihm schuldig und ich werde das solange durchziehen, bis dass er sich nicht mehr an mich erinnert. Sein Sohn wird mich weiterhin über seinen Gesundheitszustand am Laufenden halten.

Dieser unglaublich nette alte Mann, nennen wir ihn einfach mal Paul, soll nicht in der Sippschaft meiner alltäglichen Kunden untergehen. Wir sind wie Freunde in diesen langen 10 Jahren geworden und während unseren Gesprächen konnte ich mich in meiner Wohnung frei bewegen, ohne aufzupassen mich durch irgendetwas zu verraten. Wir haben uns zusammen über das Wetter aufgeregt, über Politiker, Fussballergebnisse, halt über Gott und die Welt.

Er hat 10 Jahre einen Teil meines Lebens begleitet und ich werde den Rest seines Weges mit ihm gehen.




12 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

*heul*

typ hat gesagt…

Das find ich großartig.

Phonebitch hat gesagt…

Danke, ich habe nichts, aber auch rein gar nichts dabei zu verlieren.

Lady Crooks hat gesagt…

Toll!

Ich würde sagen, man kann das mit Fug und Recht eine außergewöhnliche Freundschaft nennen...

Und wer weiß, vielleicht wird der Sohn nun auch bald Kunde...
Mit so einem netten Menschen telefoniert er sicherlich gerne!;-)

Anonym hat gesagt…

Chapeau!

Du bist ein Mensch mit einem gut eingestelltem Moralkompass!

Herr MiM hat gesagt…

Ich zolle Ihnen meinen Respekt... in allen Ehren, meine Liebe.

Anonym hat gesagt…

Wers glaubt... aber nettes marketing für dein Buch ;)

Micha hat gesagt…

Ich lese schon länger hier mit, dieser Post und dem Inhalt zolle ich jedoch meinen grössten Respekt!

Anonym hat gesagt…

Jetzt hab ich ein bisschen Pipi in den Augen. =|

Anonym hat gesagt…

Was kann man da nur sagen, ich finde es eine sehr rührende Geste! Ich wünsche Ihnen alles gute auf ihrem weiteren Weg, und ich denke, sie sind ein grossartiger Mensch. Mit diesem Post haben sie bewiesen, dass sie sicherlich gerne für ihre Dienstleistung bezahlt werden, aber dass Ihnen nicht jeder Weg gerecht ist um an Geld zu kommen, mein grösster Respekt.

Susanne hat gesagt…

Ich finde es wirklich eine nette Geste. Tust Du das in erster Linie für Dich oder den "alten" Herren? Denn er wird sich nicht mehr daran erinnern können, dass Du Dich ihm verbindlich fühlst und Dich um ihn irgendwie sorgst.

Grordan hat gesagt…

Das verdient Anerkennung! Ich finde das ganz ganz groß!!!